Trubel um den NC

16. Juni 2025

Medizinstudium ohne Numerus Clausus – Chance  oder Chaos?

“WAS? - Der Numerus Clausus (NC) wird abgeschafft?! - Wie wird das jetzt künftig ablaufen, das verfällt sicherlich in völliges Chaos”. Dies denken viele angehende Studierende, welche die Neuigkeiten über den NC, die sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben, in den Medien gelesen haben. Diese Schlagzeilen verursachen Angst und werfen Fragen auf. Wieso wird dieses Verfahren so grundlegend verändert? Wie wird es mit der Aufnahme ins Studium weitergehen?   

“Identitätskarte bitte”. Marie, welche mittlerweile eine Medizinstudentin ist, steht in der Schlange. Bald ist sie an der Reihe. Einige Plätze hinter ihr erbricht jemand. Nach der ID-Kontrolle betritt Marie die grosse Halle. Die Atmosphäre ist angespannt. Es sind andere Personen zu sehen, denen die Angst ins Gesicht geschrieben ist. Ihr wird ein Platz zugewiesen. Plötzlich geht alles ganz schnell. Das Prüfungsblatt wird verteilt. In diesem Moment weiss Marie, dass sie jetzt alles geben muss. Sie weiss, dass sie jetzt besser sein muss als viele andere Teilnehmer. Gut reicht nicht aus, sie muss besser sein. Jetzt ist Selbstbewusstsein extrem wichtig. Schweissgebadet gibt Marie die Prüfung mit gemischten Gefühlen ab. War ich jetzt gut genug? Habe ich wohl bestanden? Waren die anderen besser als ich? Diese Gedanken verfolgen sie mehrere Wochen lang. Jetzt kommt die Zeit des ewigen Wartens. Ob sie ihre Zukunftspläne verwirklichen kann, oder ob sie ihren ganzen Lebensplan umkrempeln muss, weiss sie noch nicht. Nach ungefähr einem Monat Wartezeit erhält sie die Resultate. Zitternd und aufgeregt sucht Marie nach dem Ergebnis.   

Genau so ergeht es vielen angehenden Studierenden, die sich für Medizin interessieren. Leider werden viele nicht angenommen, obwohl sie die nötigen Kompetenzen dazu hätten. Das liegt in diesem Fall am Eignungstest zur Zulassung ins Studium, kurz EMS und gar nicht am Numerus Clausus. Der Numerus Clausus, der eigentlich nur zum Ausdruck bringt, dass wir eine begrenzte Anzahl an Studienplätzen haben, wird irreführenderweise gar nicht abgeschafft. Der EMS funktioniert so, dass die besten Kandidaten einen Studienplatz erhalten. Das geht so lange weiter, bis alle Plätze vergeben sind. Die Punktzahl des letzten zugelassenen Kandidaten ist also die Zulassungsgrenze, der sogenannte Testprozentrang (TP).  

«Viele, welche wegen wenigen Punkten nicht durchgekommen sind, wären eigentlich trotzdem geeignete Kandidaten für das Studium.»  

sagt Roman Hari, Lehrdekan an der Universität Bern und Hausarzt. Warum steht aber nun der EMS in Kritik, auch wenn seine Überarbeitung nicht mehr Studienplätze ermöglichen wird?  

Negative Aspekte des EMS   

Der Eignungstest war bisher die bewährte Methode, um mit den vielen Studienplatzanfragen umzugehen. Er prüft die kognitiven Fähigkeiten jeder Person und verhindert durch die strikten Regelungen und drohenden Geldstrafen jede Art von Schummelei. Es wird bemängelt, dass die Prüfung entscheidende zwischenmenschliche Fähigkeiten wie Empathie und situationssensibles Verhalten, welche essenziell für den Beruf des Arztes sind, nicht prüft. Der zwischenmenschliche Aspekt ist in den letzten Jahren bereits mehr in den Vordergrund gerückt, da die Menschen mittlerweile auch die Möglichkeit haben ihre Ärzte auszuwählen und sicherlich bei jemandem bleiben, der ihnen ein Gefühl von Sicherheit und Verständnis vermittelt. Dies bestätigt Ärztin Lisa Meier (Name geändert). Sie ist Gynäkologin und somit eine Vertrauensperson für die Patientinnen. Wenn eine Patientin nicht zufrieden ist, wechselt sie einfach. Deshalb ist es gerade als Frauenärztin wichtig, gute soziale Fähigkeiten zu haben. Ausserdem ist die Aufnahme in das Studium sehr von der Leistung der anderen abhängig, was natürlich einen enormen Druck auf die Teilnehmenden ausübt. Jene, die unter dem Test-Prozentrang liegen, begeben sich dann ins Ausland zum Studieren. Dort stehen mehr Studienplätze zur Verfügung und sie erhalten dort eine Ausbildung, die dann auch hier zugelassen ist. 2023 wurden 3’363 Diplome von ausländischen Ärzten und Ärztinnen anerkannt, aber nur 1’284 Frauen und Männer schlossen ihr Studium hier in der Schweiz ab.   

Dabei ist fast ein zusätzlicher Drittel von denen, die den EMS schreiben, für das Studium geeignet, aber sie werden nicht zugelassen. So kommt es zu dem Entschluss, dass man einen Ansatz zur Veränderung braucht und der fällt auf den EMS. Im Jahr 2023 wird die Initiative ergriffen.  

Politische Aspekte  

Nationalrat Benjamin Roduit reicht im März 2023 eine Motion ein. In dieser fordert er den “Schluss mit dem Ausschluss” von Medizinstudenten aufgrund anderer Kriterien als Kompetenz und Qualität. Vor allem in den Bereichen der Grundversorgung und im ambulanten Bereich soll für ein besseres Angebot an Studienplätzen und klinischen Praktika gesorgt werden. Der EMS hält viele Studierenden vom Studium ab, obwohl sie eigentlich geeignete Kandidaten wären. Viele dieser Studierenden gehen ins Ausland und studieren dort Medizin, bevor sie in die Schweiz zurückkommen und hier ihren Beruf ausüben. In der Schweiz haben fast die Hälfte aller Ärzte ihr Diplom im Ausland gemacht. Dadurch kommt man in einen Teufelskreis, denn wenn ausländische Ärzte in die Schweiz kommen, fehlen sie dann woanders und so geht es immer weiter. Deshalb wird gefordert, dass der Numerus Clausus angepasst wird, damit man mehr Medizinstudenten im Inland ausbilden kann. Die Motion von Benjamin Roduit wurde zuerst vom Bundesrat abgelehnt, aber schlussendlich im September 2024 vom Ständerat angenommen. Diese Überarbeitung des Aufnahmeverfahrens soll künftig den Zugang zum Studium erleichtern. Dies allein reicht aber nicht aus, denn mehr Studienplätze werden so nicht geschaffen. Ausserdem muss für jene, die im vorherigen Jahr unter dem Test-Prozentrang (TP) waren, eine Wiederholung mit den gleichen Bedingungen gewährleistet werden. Wenn der EMS in einem Jahr wie üblich durchgeführt wird, muss im nächsten Jahr eine Wiederholung gewährleistet werden. Wie geht es also weiter?  

Welche alternativen Möglichkeiten gibt es zum EMS?    

«Keine Test und alle zulassen ist noch schlechter”, sagt Meier. Denn damit würde man die Kapazität der Universitäten massiv überschreiten. Schon jetzt wird ein ehemaliger Kinosaal in Bern gemietet und zu einem Hörsaal umfunktioniert, weil es nicht genügend Platz für alle gibt. Auch die Qualität des Studiums würde extrem abnehmen. Wichtige Elemente, wie zum Beispiel Praxiserfahrungen in Kleingruppen, seien nicht mehr so einfach umsetzbar. Das ist besonders schade, denn es sind genau diese Aspekte, welche das Medizinstudium so interessant machen. Momentan gehen Studierende in kleineren Gruppen zu einem Arzt, um praktische Erfahrungen zu sammeln. Ärztin Lisa Meier findet, dass dies ein sehr wichtiger Teil des Studiums ist, da die Studierenden so lernen, mit Menschen umzugehen. Das Medizinstudium in der Schweiz kostet jetzt schon um die 100’000 Franken pro Jahr. Wer weiss, wieviel es ohne eine limitierende Prüfung kosten wird. Es braucht also wahrscheinlich doch eine Art Aufnahmesystem. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Eine Möglichkeit wäre die Aufnahme anhand der Maturitätsnoten. Jedoch sehen Hari und Meier dieses Aufnahmesystem nicht wirklich als zielführend, da es den Druck auf die Mittelschulen noch mehr erhöht. Vorteilhafter wäre eine Art Interview als Prüfung. Somit könnte man faktenbasierte Fragen sowie die soziale Kompetenz prüfen. Beides sind wichtige Voraussetzungen für das Studium. Die Nachteile hier sind die hohen Kosten und eine Möglichkeit für unfaire Behandlung. So ein 1:1 Interview mit hunderten von Menschen durchzuführen ist ziemlich teuer. Ausserdem kann man bei diesem Verfahren nicht sicherstellen, dass alle Teilnehmer gleichbehandelt werden.  Der parlamentarische Entscheid ist also nur begrenzt zielführend. Die Lösung ist nicht sehr offensichtlich. Alternative Möglichkeiten sind viel aufwendiger und kosten mehr.   

Wie sehen es die Studierenden? Welche Möglichkeiten sehen sie, um den Zugang zum Studium zu perfektionieren?   

Studentin Marie sagt, dass es unbedingt ein Aufnahmesystem für das Medizinstudium braucht. Sie sieht als Möglichkeit, dass man vor dem EMS ein Praktikum machen muss. Dort sieht man dann, ob eine Person die notwendigen Soft-Skills hat. Während des Praktikums kommt man mit den Patienten in Kontakt. Ein/e Arzt/Ärztin oder Stationsleiter/in beobachtet das ganze Geschehen und beurteilt, ob man geeignet ist oder nicht. Wenn man geeignet ist, kann man sich für den EMS anmelden. Da dieser die sozialen Kompetenzen nicht prüft, könnte man das mit den Praktika kompensieren.   

Schlussendlich hat Marie den EMS beim zweiten Anlauf bestanden. Aber viele geeignete Kandidaten fallen leider auch beim zweiten oder dritten Mal durch und das nicht, weil sie nicht geeignet sind. Der Mangel an Studienplätzen führt dazu, dass die TP sehr hoch angesetzt wird und auch geeignete Kandidaten aussortiert. Deshalb und weil der EMS nicht alle Fähigkeiten, die ein Arzt haben muss, abdeckt, steht er in Kritik und es wird eine Änderung verlangt. Doch den EMS zu ändern ist nicht so einfach. Die Prüfung einfach abzuschaffen, ist keine Lösung. Das Einbauen eines Teiles, der die sozialen Fähigkeiten deckt, ist nicht fair für alle. Die Lösung ist also nicht so leicht zu finden, genau so sagen es auch Herr Hari und Frau Meier. In den nächsten zwei Jahren wird der Eignungstest sicher noch stattfinden. Realistisch hat man bis dahin aber noch keine Lösung gefunden. Deshalb wird er sehr wahrscheinlich noch weitere vier Jahre durchgeführt. Studenten werden in den nächsten paar Jahren noch vor, während und nach der Prüfung schwitzen und entweder ihre Karriere wie geplant weiterführen oder ihr Leben komplett umkrempeln müssen.